Der Begriff „Selbstfindung“ klingt ein bisschen danach, als hätte sich jemand verloren. Tatsächlich ist es aber so, dass wir uns dank unserer Hilflosigkeit als Neugeborene von Geburt an in einem Prozess der Fremddefinition befinden. Dieser Prozess der Erziehung, Ausbildung und Eingliederung endet in der Pubertät – oder spätestens mit dem Erwachsenwerden. Wir nennen diesen Prozess Sozialisation. Er führt uns mit Hilfe anderer in das Regelwerk unserer Kultur, unseres Glaubens, unserer sozialen Gruppe und unserer Familie ein. Danach müssen die meisten Menschen erst zu einem eigenständigen Selbst finden – „sich selbst finden“.
Mit dem Erwachsenwerden endet unsere wichtigste Sozialisationsphase (s.a. soziales Lernen) – zumindest, sofern wir uns danach nicht mehr dem Diktat anderer unterwerfen, oder ihnen durch Anpassung gefallen wollen. Wir begeben uns nun auf die Suche nach dem, was uns zu einem selbstbestimmten Individuum macht. Das sind Menschen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und innerhalb erlernter Verhaltenskodices eigene Werte definieren. Sie können dann ein in mehr oder weniger großen Teilen selbstbestimmtes Leben verwirklichen.
Was beinhaltet ein Selbstfindungsprozess?
Die Wikipedia erklärt, dass der Begriff „Selbstfindung“ aus der Entwicklungspsychologie stammt. Demnach beginnt der Prozess der Selbstfindung und Abnabelung vom Elternhaus in der Pubertät. Der Selbstfindungsprozess findet über Jahre und auf mehreren Ebenen statt. Er bezieht soziale, geistige, kulturelle, religiös-spirituelle oder materielle Aspekte mit ein. Der Grad an Selbstreflektion nimmt mit der Zeit zu. Im Laufe der Sozialisation übernommene Werte werden hinterfragt, angepasst oder neu definiert. Vorbilder oder Bezugsgruppen erhalten eine wichtige Funktion im Selbstfindungsprozess. Auch Krisen oder nicht erreichbare Ziele können zur Selbstdefinition beitragen.
Am Ende dieses Prozesses sollte eine eigene Definition dessen stehen, was man ist und was man auf keinen Fall sein möchte – ein wichtiger Faktor auch für Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Ein erwachsener Mensch hat sich individuelle Werte erarbeitet. Er strebt nach der Verwirklichung bestimmter Pläne oder Ideale. Die „Karrierebibel“ beschreibt den Prozess der Selbstfindung als Balance-Akt „auf dem schmalen Grat zwischen Individualität und Konformität, zwischen Abgrenzung und Anpassung“ (karrierebibel.de/selbstfindung/). Daraus ergibt sich: Je authentischer und individueller jemand definiert (vgl. authentisch sein), wer er ist, desto eher passt er nicht mehr ins Muster einer fremddefinierten „Normalität“. Er wird zum Außenseiter. Eine gewisse Anpassung an gesellschaftliche oder kulturelle Standards ist also sinnvoll.
Zwischen Konformität und Individualität
Zwischen den Erwartungen anderer und den eigenen Werten einen Weg zu finden, der funktioniert, ist nicht immer leicht. Heute ist die Suche nach dem eigenen Lebensweg (siehe auch Lebensziele) und den eigenen Werten allerdings sehr viel leichter als früher, wo das Korsett der Konventionen deutlich enger geschnürt wurde. Heute können wir uns trotz aller erforderlichen Konformität sehr viel mehr Individualität erlauben. Statt einer Vernunft- oder Versorgungsehe werden heute zunehmend Liebesehen geschlossen. Erlaubt sind sogar solche zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern. Das Streben nach Glück und Selbstverwirklichung hat die selbstlose Aufopferung und die Pflicht zum Gehorsam abgelöst. Frauen streben Gleichberechtigung in allen Bereichen an. Inwieweit Persönlichkeitsentwicklung oder Bildung zur Selbstfindung gehören, ist verschieden.
Was ist so wertvoll an der Selbstfindung? Nun, wer sich kennt und einschätzen kann, lässt sich nicht mehr in einem großen Ausmaß fremdbestimmen – von der Selbstwahrnehmung zu Selbst-bewusst-sein zu Selbstsicherheit zu Selbstbestimmtheit. Er kann seine Stärken und Schwächen einschätzen, und entwickelt daraus mehr Selbstwertgefühl (vgl. Selbstwertgefühl aufbauen). Mit genügend Selbstliebe und Selbstrespekt ausgestattet, ist der Mensch unabhängiger davon, durch andere bestätigt zu werden. Er ist emotionell nicht bedürftig, sondern autonom. Menschen, die sich selbst gut kennen, definieren sich selbst – gegebenenfalls auch gegen andere, und gegen das, was allgemein als „Normalität“ gilt. Sie haben eine Haltung zu vielen grundlegenden Themen und Fragen, und vertreten diese auch selbstbewusst nach außen.
von der Selbstwahrnehmung zu Selbst-bewusst-sein zu Selbstsicherheit zu SelbstbestimmtheitSelbstfindung meint immer auch Auseinandersetzung mit den Werten anderer. Es ist eine Positionsbestimmung dessen, was man selbst als wertvoll und richtig erachtet. Das Streben nach Glücksmomenten ist naturgemäß von vielen Faktoren abhängig. Doch was Glück eigentlich ist, erkennt der Suchende erst, wenn er seine eigene Werteskala festgelegt und seine Bedürfnisse erkannt hat. Für den einen liegt das Glück in einer Großstadt, für andere in der Einsamkeit der Natur. Für manche liegt das Glücksempfinden in einem hohen Verdienst und gesellschaftlichem Ansehen. Für andere sind Prestige, angesehene Posten und materielle Werte zweit- oder drittrangig.
Wichtige Pfeiler auf der Suche nach dem eigenen Weg sind folgende:
- sich selbst zum Maßstab zu nehmen
- sich Ängsten und Befürchtungen zu stellen
- offen für Neues zu bleiben und die Komfortzone zu verlassen, wenn es sinnvoll erscheint
- Beziehungen zu suchen und zu pflegen, um sich darin zu spiegeln
- Gelassenheit zu entwickeln, um in Krisen die Oberhand zu behalten
- keine Maske mehr zu tragen, sondern man selbst zu sein. Ohne Kompromisse.
- achtsam wahrzunehmen, was einem gut tut, und was nicht (siehe Achtsamkeitsübung)
Sich selbst finden: Hilfreiche Tipps und Seminare
Wer auf dem Weg zu sich selbst Unterstützung sucht, findet diese meistens auch. Die Zahl der Bücher zu diesem oder verwandten Themen ist Legende. Viele Fragen können hier beantwortet werden. Ratsuchende erhalten viele Tipps und Anregungen. Vor allem aber kann jeder feststellen, wie unterschiedlich die Vorstellungen bezüglich Selbstverwirklichung oder Selbstliebe sein können. Im Zweifelsfall hilft ein Test, sei es in der Theorie oder der Praxis (siehe Persönlichkeitstest). Beispielsweise könnte ein Arzt im Urlaub ehrenamtlich in Indien arbeiten, um eine neue Orientierung zu finden. Viele Studenten nutzen einen Auslandsaufenthalt, um zu neuen Perspektiven und Sichtweisen zu finden.
Manche Menschen fügen sich über 30 Jahre einem konventionellen Leben. Sie erlauben sich erst im höheren Alter, die Selbstverwirklichung in den Fokus zu stellen. So kommt es, dass Menschen im Alter von 55+ noch ein Studium beginnen oder einen neuen Beruf erlernen. Andere Menschen empfinden ein konventionelles Leben als genug – und leben auch Bescheidenheit als eine Tugend. Manche Menschen verlieren sich jahrelang im Karrierestreben – ohne Erkenntnis oder ggf. mit Verdrängung erkannter sozialer Konditionierung und Manipulation durch Werbung und Marketing; siehe auch: narzisstische Gesellschaft. Viele müssen sich nach einem Burn-out oder einem Herzinfarkt erneut auf den Weg machen, um den Weg zum Glücklich-Sein zu definieren. Selbst nach dem Tod eines geliebten Ehepartners kann es noch gelingen, zu sich selbst zu finden. Möglicherweise kann jemand sich endlich an die Umsetzung von Lebensträumen machen, die im vorherigen Leben nicht möglich waren.
Tipps und Platz für essenzielle Fragen ergeben sich auch in einem Workshop zum Thema. Verschiedene Anbieter bieten Kurse und Seminare an, durch die ein Klärungsprozess eingeleitet werden kann. Auch die Volkshochschulen bieten Kurse zu verwandten Themen, die weiterbringen können. Reisen können ebenso der Selbstfindung und Neuorientierung dienen, wie das Auswandern, ein Berufswechsel oder die Hinwendung zur Spiritualität. Viele Wege führen zum Ziel. Oftmals dienen die Ratschläge und Erfahrungen anderer als Inspirationshilfe. Schon deshalb ist es immens wichtig, seinen Weg immer wieder gegen andere Impulse und Ideen zu definieren. Wichtig ist dabei die Selbstermächtigung. Die Betroffenen müssen sich erlauben, sich selbst wichtig zu nehmen.
Exemplarische Angebote:
- pettenberg.de/portfolio/25-tages-kurs-du-bist-der-held-in-deiner-welt/
- spiritueller-tourismus.de/kurse-workshops-und-reisen-selbstfindung/
- tilmann-chiron.com/schule-der-entfaltung-kurse-seminare
- stephanwiessler.de/selbstfindung-was-will-ich-denn-jetzt-wirklich-und-wer-bin-ich-ueberhaupt/
Der langwierige Prozess der Selbstfindung
Meistens ist Selbstfindung ein Prozess, der über Jahre andauert. In diesem Fall gilt das Motto: „Der Weg ist das Ziel“ besonders. Sich selbst finden kann für manchen ein nie ganz abgeschlossener Erkenntnisprozess sein. Manche Menschen berichten, dass sie schon häufiger glaubten, irgendwo angekommen zu sein – nur um dann festzustellen, dass sie noch unterwegs sind, oder erneut aufbrechen müssen. Der Knackpunkt an der Selbstfindung ist, dass es so viele innere und äußere Hemmnisse zu überwinden gibt. Innere Prägungen, Bedenken und Ängste sind schwer zu überwinden. Auch äußere Hemmnisse tun sich oft auf – zum Beispiel finanzielle oder gesundheitliche. Vielfach sind es auch die Bedenken anderer, die Menschen von einer Neuorientierung abhalten.
Ob Kurse, Seminare oder ein Workshop zum Ziel führen, ist unterschiedlich. Manchmal sind es auch schwere Erkrankungen oder eine psychische Krise, die therapeutischer Hilfe bedarf (siehe auch Resilienzfaktoren). Anschließend wird der Prozess der Selbstfindung erneut aufgenommen. Der Weg zum Glücklich-Sein wird neu definiert, Perspektiven und Ziele verändern sich. Es hat etwas mit Selbstliebe und Selbstrespekt zu tun, sich nicht nur um andere Menschen zu kümmern. Wir schulden es uns, unser eigenes Potenzial zu verwirklichen und zu dem Menschen zu werden, der wir eigentlich sind. Der Beginn dieses Prozesses liegt in der Pubertät.
Die wenigsten Menschen betrachten den Prozess der des Sich-selbst-Findens nach fünf oder zehn Jahren als abgeschlossen. Sie widmen sich in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens erneut den eigenen Zielen, Träumen und Werten. Es ist sinnvoll, spätestens alle zehn Jahre zu überprüfen, wo man steht. Die Frage, ob man in den gegebenen Umständen glücklich und erfüllt ist, ist wichtig. Sie ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass viele Sterbende bedauern, bestimmte Dinge getan zu haben – und andere dafür nicht. Viele Menschen lassen sich lebenslang von den Umständen definieren, in denen sie festzustecken scheinen. Der Punkt ist aber: sie könnten einfach aufhören, darin festzustecken.
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Leben im Fluss, Überleben in Krisen
Das Leben ist in Bewegung. Es entwickelt sich manchmal unbemerkt. Doch nichts bleibt, wie es ist. Vieles, was heute als sicher, verlässlich und fest wahrgenommen wird, löst sich morgen auf. Lebendigkeit bedeutet, sich dem Prozess des Lebens immer wieder neu anzupassen, sich neu zu erleben und Veränderungen zu registrieren. Irgendwann muss der Betroffene auf veränderte Bedingungen reagieren. Lebensträume können sich verändern oder verabschieden. Manchmal könnte jemand sich die Realisierung seines Traumes erst so spät im Leben gönnen, dass dieser dann keine Relevanz mehr hat. In anderen Fällen verschieben Menschen wichtige Erfahrungen. Sie sterben, bevor sie sie machen könnten.
Das Leben ist ein täglicher Test. Es fordert uns heraus, Stellung zu beziehen und eine goldene Mitte zwischen Selbstverwirklichung, innerer oder äußerer Verpflichtung gegenüber anderen zu finden. Das frühere Konzept, sich für andere aufzuopfern, ist heute nicht mehr haltbar. Jedem Menschen wird heutzutage das Recht zugesprochen, seine Potenziale zu entfalten und sich selbst zu entwickeln. Besonders schwierig ist es, den Selbstfindungsprozess während einer schweren Erkrankung, in einer Phase tiefer Trauer oder nach dem Zusammenbrechen einer Beziehung neu zu starten.
Anfangs fühlen sich die Betroffenen entwurzelt. Sie wurden ihrer gewohnten Bezugspunkte beraubt. Auch die eigenen Wertvorstellungen können ins Wanken geraten. Der Prozess der Selbstfindung muss erneut gestartet werden – oft mit Hilfe anderer. Lebensberater, Psychologen, Achtsamkeitstrainer, Trauergruppen oder Kureinrichtungen können solchen Menschen wieder auf die Beine helfen. Oftmals ändern Betroffene danach radikal ihre Richtung (seine Berufung finden). Sie beginnen nochmal neu. Andere Menschen bemühen sich, ähnliche Umstände zu erzeugen, um erneut glücklich zu sein. Wodurch, wann und wie man sich selbst findet, spielt keine Rolle.
Wichtig ist, dass jeder einzelne unterwegs zu sich selbst ist, und nicht nur ein Abklatsch dessen bleibt, was Sozialisation, Schule und andere Einflussnehmer aus diesem Menschen machen wollten. Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, ist vielen Menschen wichtig. Es ist aber auch in Ordnung, wenn jemand die Bedürfnisse anderer immer über die eigenen stellt – zumindest, wenn das freiwillig, bewusst und mit dem Gefühl des Glücklich-Seins geschieht. Im Buddhismus beispielsweise gilt eine altruistische Lebenshaltung als Weg zum Glücklich-Sein.
Quellen und weiterführende Ressourcen:
- de.wikipedia.org/wiki/Selbstfindung
- viversum.de/beratung/selbstfindung
- solittletime.de/selbstfindung/
- dubistgenug.de/selbstfindung/
- welt.de/vermischtes/article13851651/Fuenf-Dinge-die-Sterbende-am-meisten-bedauern.html
- gluecksdetektiv.de/wie-lebe-ich-richtig-was-uns-die-sterbenden-ueber-das-leben-lehren/
- zeit.de/zeit-wissen/2014/04/persoenlichkeit-charakter-individualismus
- firstlife.de/beziehungsprobleme-wenn-selbstfindung-loslassen-heisst/
- zeitjung.de/egoismus-in-der-liebe/
- tibet.de/zeitschrift/themen/meditation/news/altruismus-uneigennuetzig-zum-wohle-anderer-handeln/